Da das zentrale Nervensystem und das Darmnervensystem über Botenstoffe in engem Austausch stehen, mutmaßen Experten, dass das Darmnervensystem, bei Reizdarmpatienten überaktiv ist. Das überaktive Bauchhirn beeinflusst vermutlich die Psyche, umgekehrt wirkt sich die Stimmung auch auf den Magen-Darm-Trakt aus.
Unter dem Begriff Reizdarmsyndrom (RDS) werden unspezifische funktionelle Darmstörungen subsummiert. Es handelt sich um eine komplexe multifaktorielle Erkrankung, die ätiologischen und pathophysiologischen Zusammenhänge sind bislang noch nicht vollständig geklärt. Die Diagnose eines RDS beruht auf den Rom-IV-Kriterien (Übersicht 1)und auf gastroenterologischen Abklärungen unter Einbezug von psychosozialer Anamnese. Beim RDS (engl. IBS, Irritable Bowel Syndrome) handelt es sich um die häufigste funktionelle Erkrankung des Gastrointestinaltraktes mit einer geschätzten Prävalenz von 7–30% in Europa [1]. In Abhängigkeit von der Stuhlkonsistenz werden die drei folgenden Subtypyen beschrieben: RDS vom Diarrhoe-Typ (RDS-D), RDS vom Obstipations-Typ (RDS-O), RDS vom Misch-Typ (RDS-M). Die Betroffenen leiden unter einer beeinträchtigten Lebensqualität und es sind erhebliche indirekte und direkte gesundheitsökonomische Kosten damit assoziiert. Die Prävalenz depressiver Störungen ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich höher [2].
Darm-Hirn-Achse als Komponente der multifaktoriellen Ätiopathogenese
Es werden verschiedene pathogenetische Faktoren für das Reizdarmsyndrom und andere funktionelle Beschwerden des Gastrointestinaltraktes diskutiert. Unter anderem geht man davon aus, dass der Mechanismus der viszeralen Hypersensitivität, also einer erhöhten Vigilanz gegenüber spezifischen Sensationen im Magen-Darm-Trakt eine wichtige Rolle spielt [3,4]. Die Perzeptions- und Schmerzschwelle auf intestinale Reize ist bei RDS-Patienten tiefer, was zu einer zentralnervösen Sensibilisierung beitragen kann [5]. Der menschliche Verdauungstrakt ist ein äusserst sensibles System, das stark innerviert ist. Unzählige afferente Nervenfasern generieren Informationen bezüglich Darminhalt und regulatorischen Prozessen der Verdauung, Absorption sowie der Immunabwehr [6].
Es gibt Hinweise darauf, dass beim RDS sowohl die zentrale Verarbeitung dieser Informationen als auch die Reaktion auf intestinale Signale gestört ist [7]. Diese Mechanismen spielen sich innerhalb der Darm-Hirn-Achse («Brain-Gut-Axis») ab, was ein Konzept ist für das Zusammenspiel des autonomen, des neuroendokrinen und des neuroimmunologischen Systems mit dem Zentralnervensystem [8] (Abb. 1). Dieses Erklärungsmodell beinhaltet auch psychosoziale Faktoren (z.B. Stressverarbeitung). In der demnächst erscheinenden revidierten Fassung der S3-Leitlinie «Reizdarmsyndrom» wird im Kapitel Pathophysiologie die Rolle des Mikrobioms ausführlich thematisiert [9]. Die Komplexität der Erkrankung widerspiegelt sich unter anderem darin, dass nicht bei allen Betroffenen dieselben Zusammenhänge nachweisbar sind. Einige Cluster von Prozessen, die mit der Pathophysiologie vom RDS in Verbindung gebracht werden, sind in der Abbildung 1 dargestellt.
Kriteriengeleitete Differenzialdiagnostik
Die Diagnose eines Reizdarmsyndroms ist möglich auf der Basis limitierter diagnostischer Untersuchungen und anhand der Rom IV-Kriterien [10,11]. Falls keine Alarmzeichen (Kasten) vorliegen, kann bei erfüllten Rom-Kriterien die Diagnose RDS gestellt werden [12]. Liegen Alarmzeichen vor, wird eine erweiterte Diagnostik empfohlen. Dem Ausschluss relevanter Systemerkrankungen kommt insbesondere im ersten Jahr nach Beginn der RDS-Symptome eine wichtige Bedeutung zu, wobei nur bei 5% aller Patienten mit RDS eine organische Erkrankung festgestellt wird [13]. Die Wahrscheinlichkeit eines Kolonkarzinoms nach vermeintlicher RDS-Diagnose beträgt nach dem 50. Lebensjahr bei 1%, was deutlich über dem Durchschnittswert der Allgemeinbevölkerung liegt. Amerikanische Leitlinien empfehlen eine Koloskopie bei Patienten über 50 Jahren, europäische Guidelines empfehlen beim RDS-D auch vor dem 50. Lebensjahr eine Koloskopie [14,22].
Bei Frauen sollte man stets ein Ovarialkarzinom in Betracht ziehen, da dies häufig mit RDS-ähnlichen Beschwerden einhergeht [15]. Eine serologische Zöliakie-Ausschlussdiagnostik einschliesslich Bestimmung der Transglutaminase-IgA und der Gesamt-IgA Antikörper wird bei Patienten mit einem RDS-D empfohlen, da es sich gezeigt hat, dass die Prävalenz eines IgA-Mangels bei Zöliakie mit 1,7–3% deutlich höher ist als in der Allgemeinbevölkerung (0,2%) [16]. Zwecks differenzialdiagnostischer Abgrenzung zu einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung sollte das Calprotectin im Stuhl bestimmt werden. Liegt der Calprotectinwert <40 µg/g ist das Risiko einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung (CED) bei unter 1% [17]. In der Neufassung der S3-Leitlinien neu hinzugekommen sind bei den relevanten Themen Gluten-Sensitivität und die Histamin-Intoleranz. Negative Empfehlungen gibt es für wissenschaftlich nicht etablierte IgG-basierte Tests auf Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten. Gewarnt wird vor unnötigen und problematischen Eliminationsdiäten, ebenfalls abgeraten wird von einer Analyse auf Dysbiose im Stuhl [10].
Individuelle und symptomorientierte Therapie
In der neuen S3-Leitlinie [9] erhält der Aspekt Ernährung einen höheren therapeutischen Stellenwert. Als mögliche Massnahme wird zu einer Low-FODMAP-Diät geraten, auch Präbiotika und Probiotika erhalten eine Empfehlung. Bei den Symptom-orientierten Therapien werden bei Schmerzen neben Spasmolytika auch Pfefferminzöl und trizyklische Antidepressiva empfohlen, während SSRI eher bei psychischer Begleitproblematik infrage kommen. Pfefferminzöl wird bereits seit Jahren als ein wirksames und gut verträgliches Naturheilmittel für Patienten mit Reizdarmsyndrom diskutiert. Einen überzeugenden Nachweis der Wirksamkeit lieferte eine Metaanalyse von Khanna und Kollegen [18]. In fünf randomisierten plazebokontrollierten Studien zeigte sich eine generelle Verbesserung der Reizdarmsymptome bei Einsatz von Pfefferminzöl. Insbesondere die abdominalen Schmerzen besserten sich deutlich. Die «American College of Gastroenterology Task Force» anerkennt Pfefferminzöl bei Reizdarm als einer reinen Placebobehandlung überlegen [19]. Neben einer erwiesenen Kurzzeitwirksamkeit der Therapie ist auch die Verträglichkeit gut [20]. Pfefferminzöl interagiert im Darm mit Kalziumkanälen und verhindert dort einen Einstrom von Kalzium in die Muskelzellen der glatten Muskulatur. Es kommt zu einer Relaxation des Darmes, was zu einer verringerten Motilität und damit einhergehend einer Reduktion von Schmerzsymptomen führt [20]. Darüber hinaus verfügt Pfefferminzöl über antiinflammatorische und antibakterielle Eigenschaften [20].
Literatur:
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HAUSARZT PRAXIS
Mirjam Peter, M.Sc.
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